Wille und Intuition
Viele der bisher beschriebenen Eigenschaften des Gewahrseins legen den Verdacht nahe, dass es mit dem Begriff Intuition identisch sein könnte. Dies trifft auch weitgehend zu, doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Intuition kann täuschen, Gewahrsein nicht. Das hängt damit zusammen, dass bei der Intuition nicht immer klar zu unterscheiden ist, ob man sie deshalb hat, weil sie als optimale Lösung aus dem Unbewussten ins Bewusstsein vorgedrungen ist, oder ob man einfach nur will, dass das intuitiv Wahrgenommene die optimale Lösung sein soll.
Sie kennen wahrscheinlich Situationen aus Quizsendungen, in denen Teilnehmer erklären, sie seien bei einer bestimmten Frage ihrer Intuition gefolgt. Dann wissen Sie sicher auch, dass das mal gut und mal schiefgeht. Der intensive Wunsch, eine Million zu gewinnen, ist ein so starker Magnet, dass er die ursprüngliche Intuition ablenken oder eine Intuition suggerieren kann, die nicht auf der Realität, sondern auf einer Illusion basiert. Bei einem hohen Gewahrsein ist die Bewusstmachung dieser Fehlerquelle integriert. In dem Augenblick, in dem es registriert, dass die Intuition einer illusionären Wunschquelle entsprungen ist, hat es die Möglichkeit, das Risiko neu zu bewerten und sich ggf. gegen die irreführende Intuition zu entscheiden.
Dies ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass unser Interesse an den Dingen uns nicht nur nützlich, sondern in bestimmten Fällen auch schädlich sein kann. Besonders im westlichen Denken herrscht eine Willensphilosophie vor, die suggeriert, man könne alles erreichen, wenn man es nur stark genug will und fest genug an seinen Erfolg glaubt.
Wir alle kennen die Geschichten von Spitzensportlern, die beteuern, sie hätten ihren Erfolg einem eisernen Willen zu verdanken, der sie beim Training alle Widerstände überwinden ließ, sowie dem festen Glauben, dass sie zu Spitzenleistungen fähig seien. Wer häufiger Sportsendungen verfolgt, kennt aber auch die Kommentare von Athleten, die ein punktuelles Versagen damit erklären, dass sie zu viel gewollt hätten: der Tennisspieler, dessen Siegeswille in der entscheidenden Phase eines Matches in den roten Bereich gerät, und dessen Bälle knapp ins Aus gehen; oder der Skispringer, der zu viel will, und deshalb im entscheidenden Augenblick nicht genug Druck unter seine Ski bekommt.
Was für den Spitzensport gilt, trifft auch auf ganz gewöhnliche Alltagssituationen zu, denen zwar im Einzelnen keine herausragende Bedeutung zukommt, die aber im Ganzen darüber entscheiden, ob die Dinge für uns mehr oder weniger optimal laufen. Was den Willen anbetrifft, halte ich eine Einteilung in drei Korridore für hilfreich:
Im weißen Korridor liegt der Wille nahe bei null. Dieser Bereich ist bestens geeignet für Entspannung, Regeneration und die Sammlung frischer Kräfte auf allen drei Ebenen des Gesamtsystems. Da der Wille innerhalb dieses Korridors quasi untertourig fährt, sind am äußeren Erfolg orientierte Spitzenleistungen weder gewollt noch zu erwarten. Es mangelt an Willenskräften, die das vorhandene Potenzial in die gewünschte Richtung lenken könnten.
Im grünen Korridor sind Entspannung und Konzentration im Gleichgewicht. Die physische, mentale und psychische Anspannung ist genauso groß, dass die vorhandenen Kräfte voll mobilisiert werden können, ohne Einbußen durch Übersteuerung in Kauf nehmen zu müssen. Es handelt sich dabei um eine schwierige Gratwanderung, da der Pfad sehr schmal ist zwischen der Klippe der willensmäßigen Untersteuerung und Übersteuerung. Es erfordert ein hohes Gewahrsein, um augenblicklich zu registrieren, wenn der Absturz in eine der beiden Klippen droht.
Im roten Korridor ist der Wille übersteuert. Bei den alten Griechen wurde der Begriff willensmäßig = thelistisch ursprünglich im theologischen Sinne verwendet. Im Neuen Testament hatte das zugehörige Substantiv thelema die Bedeutung Gottes Wille. Tatsächlich scheint mir der Hauptgrund für den Eintritt des Willens in den roten Bereich darin zu liegen, dass der Eigenwille absolut gesetzt wird. Das aufgeblähte Ego interessiert überhaupt nicht der Wille Gottes, des Schicksals, des Tao oder wie immer man den Willen des Ganzen bezeichnen möchte, in dem der Wille der Anderen ebenso enthalten ist wie der eigene. Konkret kommt die Übersteuerung dadurch zustande, dass das unbedingte Wollen die Triebkräfte Gier und Angst verstärkt. Beide sind auf die Zukunft ausgerichtete Kräfte: auf den Triumph oder die Schmach des Versagens. Die durch Gier und Angst gebundenen Kräfte fehlen dann aber im entscheidenden Augenblick der gegenwärtigen Situation. Während man hier und jetzt handeln muss, ist der Geist woanders, lateinisch = alibi.
Die so erfolgreichen österreichischen Skispringer verwenden interessanterweise häufig die Formulierung Ich war bei mir, wenn sie von Reportern nach den Gründen für ihren Erfolg gefragt werden. Demgegenüber geben die weniger erfolgreichen Konkurrenten oft falsche Alibis an, indem sie zum Beispiel auf ungünstige Windverhältnisse hinweisen. Die Ehrlichen geben wenigstens zu, dass sie sich nicht erklären können, warum sie im entscheidenden Moment ihr Potenzial nicht voll abrufen konnten. Sie haben immerhin die Chance, sich zu verbessern, sobald sie sich die entscheidende Frage stellen: Wo war ich, während ich gesprungen bin? Wenn im Alltag die Dinge nicht rund laufen, dann sollte man sich ebenfalls zunächst die Frage nach dem Alibi stellen: War ich bei dem, was schlecht gelaufen ist, dort, wo ich war, oder woanders? Bei einem entsprechend hohen Gewahrsein wissen wir nicht nur jederzeit, wo wir sind, sondern auch, welche Teilpersönlichkeiten in einer spezifischen Situation unseren Willen beeinflussen.
Jeder Spitzensportler weiß, wie wichtig es ist, dass sich sein
Wille im grünen Bereich befindet.
Wenn der Pfeil in die Mitte der Zielscheibe treffen soll, dann muss
der Wille des Bogenschützen im Augenblick des Loslassens in der
Mitte des grünen Bereichs konzentriert und entspannt ruhen.
Diese einfachen und klaren Zusammenhänge sind weniger bekannt, als man vermuten sollte, denn es herrscht immer noch die Meinung vor, dass man im Prinzip alles erreichen kann, wenn man nur seinen Willen zusammenreißt. Der Philosoph Arthur Schopenhauer hatte bereits die gern von Einstein zitierte Position vertreten, dass man zwar tun kann, was man will, aber nicht wollen kann, was man will. Nietzsche ging wenige Jahre später noch einen Schritt weiter, indem er den Erfindern des freien Willens handfeste Machtinteressen unterstellte:
"Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff 'freier Wille': wir wissen nur zu gut, was er ist - das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es gibt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne 'verantwortlich' zu machen, das heißt sie von sich abhängig zu machen."
Götzen-Dämmerung, Die vier großen Irrtümer, Nr.7, S.976 f. in der Schlechta-Ausgabe
Die meisten Neurowissenschaftler gehen heute ebenfalls davon aus, dass das Postulat von der menschlichen Willensfreiheit ein Mythos ist.
Wir können nun einmal nicht aus einem willensfreien Raum heraus entscheiden, was wir wollen. Sind wir demnach nur die ohnmächtigen Vollstrecker unseres Willens und dann in letzter Konsequenz für nichts wirklich verantwortlich, was wir tun? Diese Frage würde ich mit einem ebenso klaren Ja wie Nein beantworten, denn der Wille ist wohl doch etwas komplexer, als Schopenhauer sich das in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung vorgestellt hat.
Ich stimme mit Schopenhauer und der Mehrzahl der Neurowissenschaftler darin überein, dass wir keinen direkten Einfluss auf unseren Willen haben und insofern keine Willensfreiheit besitzen. Wenn wir uns genauer anschauen, was letztlich unseren Willen ausmacht, dann sehen wir, dass er das Resultat von mehreren miteinander konkurrierenden Handlungsimpulsen ist. Was wir dann als unseren Willen wahrnehmen, ist der Handlungsimpuls, der den Wettstreit gewonnen hat, weil er relativ zu den übrigen Impulsen, die man auch als Willenselemente oder Einzelwillen bezeichnen könnte, der stärkste war.
Sobald unser Gewahrsein diesen Untergrundkampf über die Schwelle des Bewusstseins trägt, nehmen wir indirekt Einfluss auf unseren Willen. Wir beobachten, wie verschiedene Teilpersönlichkeiten mit ihren jeweiligen Handlungsimpulsen an verschiedenen Enden eines Seils ziehen. Dabei sehen wir Riesen und Zwerge am Werke, die sich unterschiedlich auf die beiden Seiten verteilen. Noch ehe die siegreiche Partei das Seil als Trophäe in den Händen hält und die unterlegene hilflos am Boden liegt, hat das Gewahrsein bereits registriert, wo es jetzt lang geht. Es hat aber nicht nur die Sieger im Auge, sondern alle am Wettkampf beteiligten Teilpersönlichkeiten. Es registriert und übermittelt unmittelbar sowohl die Kraft als auch die Intention jedes Einzelwillens an das Gesamtsystem und ermöglicht diesem so, eine Abwägung vorzunehmen, in die nicht nur die kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungen des Kampfes einfließen, sondern auch die spezifische Wirkung auf jedes einzelne Element des Gesamtsystems.
Diesem steht nun eine viel breitere Informationsbasis zur Verfügung, auf der es unter dem Gesichtspunkt des optimalen Nutzens entscheiden kann, in welche Kräfte es mehr oder weniger Energie fließen lässt. Auf diese Weise können sich Zwerge in Riesen und Riesen in Zwerge verwandeln, was zum Beispiel dann der Fall wäre, wenn ein Riese eine Teilpersönlichkeit verkörpert, die dem Gesamtsystem langfristig schweren Schaden zuführt, wie zum Beispiel bei einem Mord aus Habgier. Entsprechendes gilt für Zwerge, die keinen unmittelbaren Lustgewinn versprechen können, die aber dem Gesamtsystem oder einem seiner Elemente auf lange Sicht Nutzen bringen.
Bezüglich der Willensfreiheit ergibt sich daher folgendes Bild. Der menschliche Wille ist determiniert, insofern er ein Spielball der Kräfte ist, die in einer spezifischen Situation einen bestimmten Handlungsimpuls auslösen, dem er sich nicht widersetzen kann, wenn der Impuls unter den konkurrierenden der stärkste ist. Der menschliche Wille ist frei, insofern er über das Gewahrsein in einem gewissen Rahmen beeinflussen kann, mit welchen Energien die verschiedenen Handlungsimpulse ausgestattet werden.
Bei der Willensfeiheit kommt noch ein weiterer Faktor ins Spiel, der je nach Standpunkt als Zufall oder Schicksal bezeichnet wird. Die alten Griechen nahmen an, dass es für alles im Leben einen besonders glücklichen Zeitpunkt gibt: Kairos. Der optimale Augenblick für bestimmte Handlungen und Ereignisse war ihnen so wichtig, dass sie Kairos sogar den Götterstatus verliehen. Sie waren der Überzeugung, dass es für jeden Menschen schicksalhafte Kairos-Momente gibt, glaubten aber auch, dass nur die wenigsten sie im doppelten Sinne des Wortes wahrnehmen können.
Die wichtigste Voraussetzung dafür besteht darin, dass ein hohes Gewahrsein das Abdriften des Willens in den roten Bereich verhindert. Nur wer bei sich ist, kann das schicksalhafte Geschenk des Kairos empfangen und den glücklichen Zeitpunkt optimal nutzen:
Während du sie draußen suchst,
klopfen die Dinge an deine Tür -
und du bist nicht zu Hause.
Andreas Tenzer