Burnout und Depressionen


In den Medien wird in letzter Zeit häufiger über Themen wie Burnout oder Depressionen berichtet. Bei solchen Modebegriffen ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob die ihnen zugeordneten Phänomene tatsächlich zugenommen haben, oder ob sie nur stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind. In diesem Fall sprechen aber sowohl wissenschaftliche Studien als auch ein zivilisatorischer Wandel im Umgang mit homöostatischen Ungleichgewichten dafür, dass ersteres zutrifft.

In den letzten Jahrzehnten hat die medizinische Forschung in einem atemberaubenden Tempo Apparaturen und Arzneien entwickelt, die es ermöglichen, die Symptome homöostatischer Schieflagen - von kleinen Unpässlichkeiten bis hin zu schweren Krankheiten - einfach und schnell zu beseitigen. Bei allen damit verbundenen Vorteilen wird oft vergessen, dass Symptombehandlung nicht die Ursachen für eine Störung beseitigt, sondern nur deren Wirkungen vorübergehend unterdrückt, bis das Gesamtsystem dann irgendwann wieder in Form neuer Symptome Alarm schlägt.

 Niemand leidet plötzlich an einem Burnout oder einer Depression. Plötzlich ist immer nur das Bewusstwerden des "Ausbruchs". Davor hat es meist eine große Anzahl von ignorierten Schüssen vor den Bug gegeben. Gewahrsein ist das Gegenteil von Ignoranz. Es ist ein waches Bewusstsein, das jedes homöostatische Ungleichgewicht unmittelbar registriert. Indem es in jedem Augenblick die optimale Funktionalität des Gesamtsystems im Sinn hat, ist es nicht nur dessen Bewusstseinszentrale, sondern indirekt auch dessen Steuerungszentrale. Wie einfach und wirksam die Steuerungsmechanismen des Gewahrseins funktionieren, lässt sich gut am Beispiel eines Burnouts beschreiben.

Burnout ist bekanntlich das Endstadium eines Getriebenseins, dem der innere Ruhepol abhandengekommen ist. Um dieses Endstadium zu erreichen, muss man gar nicht einmal besonders aktiv sein. Es reicht völlig aus, dass man etwas unbedingt erreichen will, das heißt, dass man die Bedingungen für das Erreichen eines Ziels ausblendet. Zu den wichtigsten Bedingungen gehört zweifellos ein gesundes Körper-Geist-Seele-System. Ignoriere ich diesen Faktor, dann verhalte ich mich wie jemand, der sein Haus anzündet in der Hoffnung, dass an derselben Stelle ein größeres nachwächst. Im Unterschied zum Phönix aus der Asche ist aber das Verbrennungsritual des Burnout-Patienten kein Akt der Transformation in eine höhere Ebene, sondern eine Selbstverbrennung, nach der nur ein Häufchen Asche übrig bleibt, wenn man den destruktiven Mechanismen nicht auf die Spur kommt.

Falls Sie sich jetzt fragen, wie jemand nur so blöd sein kann, gebe ich zu bedenken, dass der Grat zwischen Selbstvernichtung und Selbsttranszendenz ein schmaler ist. Der Burnout-Kandidat hat natürlich nicht die Absicht, sich selbst zu zerstören. Ihm ist "nur" am Anfang ein fundamentaler Irrtum unterlaufen, und da nach Aristoteles der Anfang die Hälfte vom Ganzen ist, ist das Ganze, was er sich vorgenommen hat, von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Oft ist ein unstillbarer Hunger nach Anerkennung die Hauptursache für ein Burnout. Man möchte etwas erreichen, wofür man garantiert bewundert wird. Der fatale Irrtum besteht darin, dass man sich selbst wesentlich auf den Faktor Anerkennung-durch-Andere reduziert. Bei der Entwicklung des eigenen Selbst orientiert man sich deshalb nicht am eigenen Wesen, sondern an dem, was Andere für wesentlich halten. Aus diesem Grund ist die Selbstverbrennung eigentlich keine Selbstverbrennung, sondern die Verbrennung des fremdgesteuerten Ego, das die Herrschaft über das Selbst an sich gerissen hat. Insofern ist das Burnout nur der Gipfel einer Krise, an deren Anfang die meist unbewusste Entscheidung für das Ego und gegen das Selbst stand.


depressiver jugendlicher

Bildquelle: S. Hofschlaeger / pixelio.de
Verschiedenen Studien zufolge haben Depressionen bei Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen.
Mit dem entsprechenden Gewahrsein können sie aber sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen.


Der Begriff Krise stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnete ursprünglich in der Medizin den Wendepunkt zum Besseren oder Schlechteren, also Heilung oder Exitus. Nach diesem Verständnis trägt die Krankheit stets auch die Mittel zu ihrer Überwindung in sich, denn crisis bedeutet zugleich das Heilmittel, von dem christos = der Gesalbte = Christus abgeleitet ist. Der erfolgreiche Fußballtrainer, der wegen eines Burnoutsyndroms freiwillig seinen Job quittiert und sich danach viel besser fühlt, ist ein Beispiel dafür, dass der richtige Umgang mit einem Burnout heilsam sein kann.

Gewahrsein - ein natürliches, hochwirksames Mittel gegen Burnout und Depressionen

Chronische homöostatische Ungleichgewichte wie Burnout oder Depressionen können durch ein hoch entwickeltes Gewahrsein vermieden werden, denn das würde bereits Alarm schlagen, wenn ein Ungleichgewicht auch nur droht, spätestens aber, wenn die ersten Schieflagen eingetreten sind. Dem könnte man entgegenhalten, dass geheilte Burnout-Patienten manchmal davon berichten, dass ihnen schon recht früh bewusst war, dass irgendetwas bei ihnen schieflief. Eine solche kognitive Erkenntnis ist aber noch weit vom Gewahrsein entfernt, denn dieses ist ein Spürbewusstsein, das nicht nur einzelne Phänomene wahrnimmt, sondern auch die Zusammenhänge zwischen ihnen. Im Falle eines Burnout hätte es schon früh die Verbindung hergestellt: Bedürfnis nach Anerkennung > Getriebensein > innere Unruhe > Schlafstörungen > Herzkreislaufstörungen > starke Stimmungsschwankungen > selbstzerstörerische Neigungen usw. Entsprechendes gilt im Wesentlichen auch für Depressionen, weshalb ich diesbezüglich auf weitere Ausführungen verzichte.

 Das Gegenteil von Selbstzerstörung ist Selbsterhöhung - nicht im Sinne von Hochmut, sondern von Selbsttranszendenz. Diese bezeichnet einen permanenten Wandlungsprozess, der frei ist von künstlichen Selbstbeschränkungen und falschen Identifikationen und ausgerichtet ist auf die bestmögliche Entfaltung aller im Selbst schlummernden Möglichkeiten. Da jeder über so viel Potenzial verfügt, dass er während eines Menschenlebens unmöglich an eine Grenze stoßen kann, wo nichts mehr geht, ist Selbsttranszendenz ein unbegrenzter Prozess der Grenzüberschreitung, lateinisch: transcedere = hinübergehen. Grenzen sind also nichts anderes als Übergänge zwischen zwei Stufen der Entfaltung, oder anders ausgedrückt, hinter jeder erreichten Stufe breitet sich ein neues Level aus, mit neuen Landschaften, Leidenschaften und Herausforderungen.

Wer aber an Burnout oder Depressionen leidet, hat sich in einer Landschaft festgefahren und befindet sich an einem Punkt, wo kein neues Land in Sicht ist. Das ist das eigentliche Drama dieser Zivilisationskrankheiten. Der Hauptunterschied zwischen beiden besteht darin, dass beim Burnout sämtliche Kräfte des Gesamtsystems so von den alltäglichen Anforderungen in Anspruch genommen werden, dass auf Reservetanks zurückgegriffen werden muss, ohne Perspektive diese, geschweige denn den Hauptenergietank, wieder auffüllen zu können. Dabei dominiert in der Regel eine positive Einstellung gegenüber den übernommenen Aufgaben, begleitet von der Angst, sie nicht mehr bewältigen zu können.

Bei der Depression sind nicht nur die Energietanks leer, sondern es ist auch nichts in Sicht, wofür es sich lohnen könnte, sie wieder aufzufüllen. Wenn dieser Zustand länger andauert, führt das bei den Betroffenen oft zu einer Erstarrung, die ihnen das Gefühl gibt, mitten im Leben gestorben zu sein. Sie sind antriebslos, lustlos und ohne Hoffnung, dass sich an ihrem Zustand etwas ändern könnte. Der Depressive sieht keine Felder, auf denen etwas wachsen könnte, und deshalb keine Chance, über sich hinauszuwachsen.

Der altgriechische Philosoph Aristoteles hat für die Kraft, die Individuen und Nationen über sich selbst hinauswachsen lässt, den Begriff epidosis eis hauto gewählt - die zusätzliche Gabe, die ein System über uns selbst hinausträgt. Prinzipiell hat jeder Zugang zu dieser Gabe, doch es erfordert ein hohes Gewahrsein, um kontinuierlich mit ihr in Berührung zu bleiben. Täglich durchwandert es die angelegten Gärten, nährt die Pflanzen durch liebevolle Wahrnehmung, erfreut sich an allem, was wächst und gedeiht und achtet auch darauf, dass nicht mehr Gärten angelegt werden als sorgfältig gepflegt werden können. Gewahrsein ist also die entspannt beobachtende Kraft des Bewusstseins, die uns gleichzeitig mit uns zufrieden sein und über uns hinauswachsen lässt. Im Kraftfeld dieses Bewusstsein hätten Phänomene wie Burnout oder Depression keine Chance. So lautet die achte Definition:

Gewahrsein ist die Kraft des Bewusstseins, die uns ohne zusätzliche Willensanstrengung kontinuierlich über uns selbst hinauswachsen lässt.

Dabei handelt es sich um ein natürliches Wachstum, das nicht künstlich durch hochgesteckte Ziele und ehrgeizige Zukunftspläne gedopt werden muss. Diese bleiben dort, wo sie hingehören, nämlich im Hinterkopf, sodass die gesamte physische, mentale und psychische Energie in das einfließen kann, was in diesem Augenblick geschieht oder getan wird. Auf diese Weise angewendet, ist das Gewahrsein ein hervorragendes Mittel gegen Burnout und Depressionen, und zwar nicht nur im therapeutischen, sondern auch im prophylaktischen Sinne.

 

 Schlaues Schaf

 Indem wir über uns hinauswachsen,
erreichen wir auch die Früchte,
die über uns wachsen ...

Gewahrsein und Atmung