Was bedeutet Gewahrsein? - Sechs Definitionen
1. Gewahrsein ist ein Bewusstseinszustand, in dem das, was ist, wahrgenommen wird
Diese erste Definition des Begriffs Gewahrsein beinhaltet bereits den zentralen Punkt, um den es beim Gewahrwerden eines Gegenstandes oder Vorgangs geht. Wahrnehmung bedeutet, die Dinge so zu nehmen, wie sie in Wahrheit sind. Nimmt jemand etwas anders wahr als es ist, sprechen wir von falscher Wahrnehmung. Dieser Begriff ist aber ein Widerspruch in sich. Nehmen wir die Dinge so wahr, wie sie nicht sind, liegt eigentlich eine "Falschnehmung" vor.
Wahrheit ist die Übereinstimmung der Wahrnehmung mit dem Gegenstand der Wahrnehmung, so lautet die klassische lateinische Definition von Wahrheit: veritas est adaequatio intellectus et rei. Liegt eine solche Übereinstimmung = adaequatio vor, dann versteht der Wahrnehmende die Dinge = rei, als das, was sie sind. Es ist bemerkenswert, dass "intellectus" im Lateinischen diese drei Bedeutungen impliziert: Wahrnehmen, verstehen und verstanden werden. In diesem Sinne bedeutet Wahrnehmung, keine künstlichen Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zu errichten, das heißt, der natürlichen Einheit beider gewahr zu werden. Gewahrsein ist also keine aktive Handlung, sondern reine Beobachtung, mit dem bewussten Verzicht darauf, etwas in die Dinge hineinzuprojizieren, was nicht in ihnen enthalten ist:
2. Gewahrsein ist der bewusste Verzicht auf Projektionen
Die zweite Definition verdeutlicht die Schwierigkeiten bei der Entwicklung eines hohen Gewahrseins. Es scheint eine starke Triebkraft im Menschen zu geben, die eher darauf aus ist, sich die Dinge untertan zu machen, als sie zu verstehen. Das vom lateinischen subicere = unterwerfen abgeleitete Substantiv Subjekt macht dies deutlich: Subjekt sein heißt versuchen, sich die Objekte untertan zu machen. Es interessiert sich nicht dafür, was die Dinge an sich sind, sondern hat nur im Auge, was sie für es sein könnten. Gewahrsein ist also ein Bewusstsein jenseits der Dualität von Subjekt und Objekt.
Sich von der Vorstellung zu befreien, ein Subjekt zu sein, kann Angst machen, besonders wenn man befürchtet, dadurch seine Identität zu verlieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass Individualität nur dort entsteht, wo alles Subjektive freiwillig aufgegeben wird. Subjekte sind fast beliebig austauschbar. Dadurch, dass alles Existierende für sie nur unter dem Aspekt betrachtet wird, ob es als Beute geeignet ist, unterscheiden sich Subjekte nur in der Technik der Ausbeutung und der Vorliebe für bestimmte Objekte. Alles an den Dingen, was über die Qualität Nützlich-für-mich hinausgeht, liegt außerhalb des Wahrnehmungsfeldes. Ein Individuum zeichnet sich aber vor allem dadurch aus, dass es Individuelles in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen kann.
Auf die bloße Einverleibung von Gegenständen und die Instrumentalisierung von Personen zu verzichten, bedeutet nicht, dass man an ihnen kein Interesse haben dürfte, denn dann wäre das eigene Leben uninteressant. Entscheidend ist allein, wie ich mein Interesse zur Geltung bringe. Anders als bei der subjektiven Unterwerfung der Objekte ist das individuelle Bewusstsein im Akt des Gewahrwerdens einfach nur bei der Sache, ganz im Sinne der lateinischen Bedeutung von interesse = dabei sein. Der Gegenstand des Interesses ist dabei nicht ein bloß Zuhandenes im Heideggerschen Sinne, sondern ein als gleichwertig respektierter Mitspieler. Die dritte Definition lautet deshalb:
3. Gewahrsein bedeutet, alles Wahrgenommene in seiner einzigartigen Individualität zu respektieren
Hier drängt sich die Frage auf, ob das auch für Subjekte und Objekte gilt, die sich uns feindlich in den Weg stellen oder lästige Hindernisse darstellen. Es ist ein elementares Kennzeichen des Gewahrseins, dass es die Inhalte seines Bewusstseins nicht in gut und böse aufsplittet. Dennoch registriert es in jedem Augenblick, was die spezifische Kommunikation mit Gegenständen oder Personen mit dem eigenen Körper-Geist-Seele-System macht. Im Eigeninteresse wie auch im Interesse aller an einer Interaktion Beteiligten versucht es intuitiv, schädliche Situationen zu meiden und förderlichen gegenüber offen zu sein. Ein hoch entwickeltes Gewahrsein kann dabei auch unterscheiden, inwieweit wahrgenommene Destruktivität von der eigenen Person oder vom Kommunikationspartner ausgeht.
Angenommen, jemand bekommt nach dem Zusammensein mit einer bestimmten Person regelmäßig Migräneanfälle, dann wäre es hilfreich, den Hauptauslösefaktor zu orten. Vielleicht stinkt der Kommunikationspartner, ist arrogant, besserwisserisch, kränkend, aufdringlich usw. Wird jener in der ein oder anderen Form wahrgenommen, dann checkt das System des "Migräneopfers" automatisch, wie hoch der Eigenanteil an den registrierten Widrigkeiten ist. Im Falle einer Kränkung zum Beispiel wird geprüft, ob es in einem selbst etwas Krankes gibt, das mit dem als Kränkung empfundenen Verhalten des anderen in Resonanz getreten ist.
Wird der einer Situation gewahrseiende Partner bei sich fündig, dann ist er dem "kränkenden" Gegenüber dankbar für die Enttarnung eines bisher unbewussten eigenen Defizits und wird mit dessen Aufarbeitung beginnen. Sollte aber keinem Migräne auslösenden Faktor ein inneres Resonanzfeld zugeordnet werden können, stellt sich immer noch die Frage: Warum setze ich mich fortwährend einer Negativität aus, die mich beschädigt, ohne dass damit wenigstens ein kompensierender Lerneffekt einhergeht?
Mögliche Antworten darauf könnten sein: existenzielle Abhängigkeit vom Anderen, falsches Mitleid oder Verantwortungsgefühl, nicht Nein-Sagen-Können usw. Sind die tatsächlichen Auslösefaktoren wirklich gewahr geworden, wird die betreffende Person auch über die notwendige Entschlusskraft verfügen, um die schädlichen Situationen zukünftig zu meiden. Hieraus ergibt sich die vierte Definition:
4. Das Gewahrsein registriert jederzeit sowohl die eigenen Handlungsimpulse als auch die der Kommunikationspartner
Man könnte meinen, dass es für den "Täter" förderlich wäre, wenn das "Opfer" sich dauerhaft in seine Rolle fügen würde. In Wirklichkeit gibt es aber weder Täter noch Opfer, sondern allein einen Kommunikationsprozess, der für die daran beteiligten Personen mehr oder weniger förderlich bzw. schädlich ist. Wer aber tatsächlich stinkt, arrogant und aufdringlich ist, der braucht nichts mehr als jemanden, der seiner meist unbewussten Negativität Widerstand bietet und ihm so notwendige Lern- und Entwicklungsschritte ermöglicht.
Die vierte Definition lässt zwei entscheidende Fragen unbeantwortet:
1. Wie kann ich mir sicher sein, dass die von mir registrierten Denkmuster und Handlungsimpulse meiner Kommunikationspartner nicht meine eigenen Projektionen sind? Der beste Schutz gegen Projektionen ist an dieser Stelle die Gewissheit, dass man sich nie ganz sicher sein kann. Deshalb sollte man alle diesbezüglichen Prognosen generell unter Projektionsverdacht stellen. Und selbst wenn die Prognosen sich immer wieder bestätigen, könnten sie eine sogenannte self-fulfilling prophecy sein, das heißt, dass der andere sich so verhält, wie ich ihn einschätze, weil ich ihn so einschätze. Bei einem hohen Gewahrsein wird dieses Problem dadurch gelöst, dass aktive eigene Projektions-Aktivitäten wahrgenommen und dadurch in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt werden.
2. Woher weiß ich, was kurz-, mittel- oder langfristig nützlich bzw. schädlich ist? Beim Gewahrsein geht es weniger um Wissen als um Spüren, mehr um Intuition als um Kognition. Das hängt damit zusammen, dass es weder Gedanken noch Ereignisse gibt, die keine Spuren in unserem Körper-Geist-Seele-System hinterlassen, das ich ab jetzt der Einfachheit halber Gesamtsystem nennen werde. Der Verstand ist ein integraler, notwendiger aber nicht hinreichender Bestandteil dieses Gesamtsystems, wie die beiden folgenden Beispiele verdeutlichen.
Wir brauchen nur an ein leckeres Essen zu denken, und schon läuft uns das Wasser im Mund zusammen. Wir brauchen nur an eine wichtige Prüfung oder Besprechung zu denken, der wir nicht gewachsen zu sein glauben, und schon stockt uns der Atem, rotieren unsere Gedanken, breitet sich Angst aus. Sind wir dieser Prozesse nicht voll gewahr, dann wird unser Gesamtsystem versuchen, uns mit suboptimalen Kompensationshandlungen provisorisch aus der Patsche zu helfen, wie zum Beispiel durch Verdrängung, Ablenkung oder Krankheit. Der spürbewusste Mensch registriert dagegen unmittelbar, wenn in einem Teil des Gesamtsystems eine Blockade ausgelöst wird, im Idealfall sogar schon dann, wenn eine solche droht. Hohes Gewahrsein impliziert nämlich ein Frühwarnsystem, das sofort Alarm schlägt, wenn dem Gesamtsystem Schaden droht. Dies erinnert an die eingangs zitierten Worte aus dem Tao Te King: Handle, bevor die Dinge da sind. Ordne sie, bevor die Verwirrung beginnt.
Auch wenn Laotse den Begriff nicht verwendet, spricht er hier die einzige Kraft an, die gleichzeitig zu präsentem und präventivem Denken und Handeln befähigt: Gewahrsein. Es hat permanent das Spürbewusstsein im Auge, das den Bereichen, in denen eine Funktionsbeeinträchtigung droht oder bereits eingetreten ist, sofort seine volle Aufmerksamkeit schenkt und wird vom Gesamtsystem damit belohnt, dass es augenblicklich ohne weiteres Dazutun die Blockaden verhindert bzw. auflöst oder Lösungswege aufzeigt, wie wir im Fluss bleiben oder neu in Fluss kommen können, sodass uns die blockierte Energie wieder als Handlungsenergie zur Verfügung steht.
Was blockierte Energie anrichten kann, kennt jeder, der schon einmal von einer Lernblockade oder Prüfungsblockade betroffen war. Auf meiner Website Konzentration Lernen beschreibe ich ausführlich, wie verschiedene Arten von Blockaden entstehen und wie man sie auflösen kann. Unter dem Menüpunkt Lust und Angst beim Lernen stelle ich verschiedene "Wahrnehmungs-Apps" vor, mit deren Hilfe Schüler und Studenten ihren situativen mentalen, emotionalen und physischen Zustand checken können und gebe Tipps, was sie tun können, wenn eine oder mehrere Ebenen sich im roten Bereich befinden. Bemerkt man dies rechtzeitig, dann kann man handeln, bevor die Dinge da sind, und sie ordnen, bevor die Verwirrung beginnt - genau so, wie Laotse es in seinem Spruch ausgedrückt hat. Hieraus ergibt sich als fünfte Definition:
Bildquelle: Christina Kaden/pixelio.de
Trotz dunkler Wolken gehen die Fischer am Morgen auf Fang.Sie kennen die Gefahr und vertrauen ihrem Gespür.
5. Gewahrsein reguliert das homöostatische Gleichgewicht jederzeit über das Spürbewusstsein
Im Leben gibt es Situationen, in denen es ratsam ist, zu hundert Prozent auf einen Punkt fokussiert zu sein. Wer zum Beispiel im Straßenverkehr plötzlich zu einer Vollbremsung gezwungen ist, wird in diesem Augenblick automatisch sein gesamtes physisches, geistiges und intuitives Potenzial dafür einsetzen, einen Unfall zu vermeiden. Gibt man sich dagegen in einer völlig entspannten Situation irgendwelchen Tagträumen hin, liegt keinerlei Fokussierung vor, das heißt, in diesem Moment könnte potenziell alles Denk- und Vorstellbare Gegenstand unseres Bewusstseins werden.
Ein hohes Gewahrsein ist dadurch gekennzeichnet, dass sowohl der jeweilige Fokussierungsgrad bewusst ist, als auch dass ein sicheres Gespür dafür vorhanden ist, welcher Grad in einer spezifischen Situation angemessen ist. Dann ist gar kein aktiver Willensakt mehr erforderlich, um sich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Stattdessen ist die Konzentration das Resultat eines hochintelligenten intuitiven Abwägungsprozesses, der die jeweils optimale Ausrichtung des dem Gesamtsystem zur Verfügung stehenden Potenzials festlegt. Gewahrsein steuert also ohne jede Anstrengung die Konzentration so, dass interne Bedürfnisse und externe Gegebenheiten im Gleichgewicht sind. Damit sind wir bei der sechsten und vorläufig letzten Definition angekommen:
6. Bei einem hoch entwickelten Gewahrsein fokussieren und handeln wir entsprechend den Erfordernissen der jeweiligen Situation
Wir alle kennen Situationen, in denen wir nicht wissen, ob wir den logischen Argumenten folgen sollen, die unser Kopf uns liefert, oder ob es besser wäre, sich auf unser Bauchgefühl zu verlassen. Solche Probleme tauchen nur auf, wenn Verstand und Gefühl nicht ausreichend vernetzt und synchronisiert sind. In diesem Zusammenhang spreche ich von einer emo-kognitiven Unschärferelation, die besagt, dass man nicht gleichzeitig klar denken und intensiv fühlen kann. Jeder, der einmal während einer orgiastischen Ekstase versucht hat, eine komplizierte mathematische Aufgabe zu lösen, wird aus eigener Erfahrung wissen, dass es unmöglich ist, beide Vorgänge in gleicher Qualität gleichzeitig zu erleben.
Dies ist zwar auch bei einem hohen Gewahrsein nicht möglich, doch löst es für uns den Konflikt automatisch, indem es einem der beiden Vorgänge zu einem Zeitpunkt X Vorrang vor dem anderen einräumt, und zwar demjenigen, der unter instantaner Abwägung aller Wirkungen, die sich aus der Entscheidung, wofür wir uns fokussieren ergeben, den größtmöglichen Nutzen verspricht, und dies nicht nur für den Augenblick selbst, sondern auch für die zukünftigen Wirkungen. Man könnte sagen, dass das Gewahrsein entspannt und zuverlässig zugleich in jedem Augenblick eine Nutzen-Schaden-Abwägung durchführt, basierend auf dem, was uns guttut und ebenso allen anderen, die in einen bestimmten Kommunikationsprozess eingebunden sind. So gesehen ist das Gewahrsein ein unermüdlicher Initiator von Win-win-Situationen. Da selten alle an einem Kommunikationsprozess Beteiligten ein gleich hohes Gewahrsein haben und bei jedem Einzelnen der Grad des Gewahrseins situativen Schwankungen unterliegt, sind Win-win-Situationen immer auch davon abhängig, wie stark die Kraft des Gewahrseins bei unseren Kommunikationspartnern entwickelt ist.