Gewahrsein im Denken und Handeln
Alles, was wirklich ist, muss zuvor möglich gewesen sein.
Ob etwas Mögliches für uns wirklich wird, hängt davon ab, ob es in unserer Wirklichkeit Möglichkeiten vorfindet, die Schwelle von der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu überschreiten. Wenn ja, dann hängt es von der Beschaffenheit unserer augenblicklichen Wirklichkeit ab, wie etwas für uns jetzt Wirklichkeit wird.
Die Kraft des Bewusstseins, das kontinuierlich die Schnittstelle zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit im Auge hat, ist das Gewahrsein.
Zwar ist das Blickfeld des Gewahrseins unbegrenzt, doch ist es zunächst auf das Unmittelbare, Naheliegende ausgerichtet. Es erfasst jederzeit entspannt konzentriert, das heißt ohne Anstrengung, was unser Körper empfindet, was unser Geist denkt und was unsere Seele fühlt. Das Gewahrsein registriert ebenso kontinuierlich, welche Handlungsimpulse aus diesen Vorgängen hervorgehen, ob und wie diese Impulse in Handlungen umgesetzt werden, wie diese Handlungen auf die Außenwelt wirken und welche Rückwirkungen sich daraus auf das eigene Selbst ergeben.
Gewahrsein impliziert das fundierte Vertrauen, dass es über die wache Beobachtung all jener Vorgänge hinaus nichts zu tun gibt. Jemand, der aller Faktoren gewahr wird, die auf eine spezifische Situation einwirken, verwirklicht in jedem Augenblick das Bestmögliche, weil er sich keinen Kopf darüberzumachen braucht, was geschehen soll, sondern einfach das tut, was geschehen will. In welchem Umfang dies in der Praxis gelingt, hängt davon ab, wie hoch das Gewahrsein entwickelt ist.
Auf dieser Internetseite möchte ich Sie mit dem Nährboden vertraut machen, auf dem Gewahrsein wachsen kann, sowie mit Techniken, die geeignet sind, es kontinuierlich zu erhöhen. Ich bin davon überzeugt, dass Gewahrsein die wertvollste erlernbare Fähigkeit ist, die ein Mensch in seinem Leben entwickeln kann, da es die Qualität von allem was wir tun und was uns widerfährt ebenso unmittelbar wie nachhaltig bestimmt. Die kostbarsten Früchte, die auf den Äckern des Gewahrseins wachsen, sind innere Ruhe und heitere Gelassenheit. Wie bereits gesagt, ist die Ausübung des Gewahrseins nicht mit Anstrengung verbunden, doch wenn wir es erhöhen und über uns hinaus wachsen wollen, müssen wir Widerstände überwinden. Saint-Exupéry hat einmal gesagt:
Die Erde schenkt uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns Widerstand bietet. Und nur im Kampf findet der Mensch zu sich selbst.
Antoine de Saint-Exupéry, Wind, Sand und Sterne, 3. Aufl. Düsseldorf: Karl Rauch, 3. Auflage, Düsseldorf 2002, S. 9
Sollten Sie sich ernsthaft auf den Weg zu den Gipfeln des Gewahrseins begeben, kann ich Ihnen nicht versprechen, dass Sie eine bestimmte Höhe erreichen. Jedoch kann ich Ihnen versichern, dass Sie denjenigen, der Sie zum Aufbruch inspiriert hat, auf Ihrem Weg gelegentlich verfluchen werden. Machen Sie sich auf Widerstände gefasst, die Ihnen anfangs den Schweiß der Arbeit und der Angst ins Angesicht treiben werden. Und wenn Ihnen nach Kapitulation zumute ist, denken Sie daran, dass Sie nur über den Widerstand, den Ihnen die Erde bietet, zu sich selbst finden.
"Denn die Liebe wird dir nicht als Geschenk gegeben von dem Gesicht,
das dir begegnet, und ebenso entsteht deine Heiterkeit nicht durch die
Landschaft, sondern durch den Aufstieg, den du überwunden hast."
Antoine de Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste, S. 132
Die Überwindung des Widerstands gilt sowohl für die sinnlich konkrete Bearbeitung der Erde etwa durch Bauern und Gärtner, für die mittelbare Gestaltung durch Handwerker oder Künstler als auch im weitesten Sinne für alle Herausforderungen, denen wir täglich auf Erden begegnen. Wenn Sie sich bis zu dem Punkt durchkämpfen, wo Sie sich jederzeit auf Ihr Gewahrsein verlassen können, dann wird aus dem Kampf ein entspannt konzentriertes Wellenreiten im Hier und Jetzt. Sie werden Monsterwellen kommen sehen, lange bevor sie da sind, und selbst wenn eine sie mal zum Abtauchen zwingt, werden Sie bald wieder sicheren Boden unter den Füßen haben.
Sollten Sie am Anfang des folgenden Zitats von Laotse jeweils ein "Ich" hinzufügen können, dann haben Sie jenen Punkt erreicht. Sie sind zur Schnittstelle zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit vorgedrungen, zur Quelle des Hier und Jetzt, aus der alle Lebenssituationen entspringen.
"Handle, bevor die Dinge da sind.
Ordne sie, bevor die Verwirrung beginnt."
Laotse, Tao Te King, Zensho W. Kopp (Übers.), Schirner, Darmstadt 2005, Kap. 64
Eine solche Haltung zum Leben stimmt zur einen Hälfte mit dem Positiven Denken überein und steht zur anderen Hälfte in Opposition zu ihr. Beiden gemeinsam ist eine zuversichtliche Grundeinstellung, doch in der Praxis unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Punkt. Das Positive Denken ist zukunftsorientiert, während das Gewahrsein auf die Gegenwart ausgerichtet ist. Die Weiche, an der sich entscheidet, wohin der Zug fährt, trägt den Namen Negativität. Beim Positiven Denken geht es stets darum, etwas, das als negativ eingeschätzt wird, suggestiv in etwas Positives zu verwandeln. So kann ich etwa, wenn ich arm bin, Reichtum oder wenn ich krank bin, Gesundheit visualisieren. Das ist sicher besser, als umgekehrt vorzugehen, also negativ zu denken.
Der Begriff des Positiven Denkens beinhaltet aber zwei Schwachstellen, nämlich positiv und denken. Er setzt voraus, dass unser Denken jederzeit weiß, was positiv und was negativ ist. Insofern basiert dieses auf einer festgelegten Grundeinteilung der Welt in gut und schlecht. Wir wissen aber, dass sich die Welt in einem permanenten Wandel befindet. Was wir heute für gut halten, kann morgen schon als schlecht eingestuft werden und umgekehrt.
So kann es einem Positivdenker passieren, dass ihm sein Denken einmal ein Ziel als positiv ausgewiesen hat, dessen Erreichung ihm aber ab einem bestimmten Punkt mehr Nachteile als Vorteile oder zumindest keinen optimalen Nutzen bringen würde. Er würde dann beim Versuch, Negativität auszuschalten, das Schicksal einer Abwehrrakete teilen, die mit fest programmiertem Kurs auf ein flexibles Ziel ausgerichtet ist. Die Rakete würde das eigentliche Ziel verfehlen und schlimmstenfalls auch noch etwas Wertvolles zerstören, das ihr in die Quere kommt. In Bezug auf positive Ziele würde er dem Angler ähneln, der nicht merkt, wann ein Teich leergefischt ist.
Bei einem hohen Gewahrsein kann das alles aus zwei Gründen nicht passieren. Zum einen verfügt es über eine viel größere Datenbasis, aus der es seine Handlungsimpulse empfängt und in Verhalten umsetzt. Es steht in permanenter Verbindung mit dem eigenen Körper-Geist-Seele-System und der Intentionalität des Ganzen. Dabei verlässt es sich also nicht allein auf das Denken, sondern wird aller Faktoren gewahr, die auf eine spezifische Situation einwirken. Zum zweiten registriert es jede Veränderung und ermöglicht es uns so in jedem Augenblick offen zu sein für das, was jetzt die optimale Handlung wäre. Das Gewahrsein versetzt uns also in die Lage, jederzeit flexibel auf Veränderungen zu reagieren.
Nutzen wir dieses Potenzial, dann brauchen wir uns keine Gedanken darüberzumachen, was sein könnte oder sein sollte, sondern empfinden das als gut, was jetzt ist. Jenseits von positiv und negativ vertrauen wir der Wirklichkeit des Hier und Jetzt, das heißt, wir haben Urvertrauen. Statt in die Fallen zu tappen, die uns das Positive Denken stellt, nehmen wir wahr, was uns eine leise innere Stimme zuflüstert. Diesen Gedanken habe ich einmal in zugespitzter Form als Aphorismus formuliert:
Alles wird gut, posaunt das Positive Denken.
Alles ist gut, flüstert das Urvertrauen.